„Den Anfang bedacht, hat viel Gutes gebracht.“ So heißt es sprichwörtlich. Andererseits heißt es von Ovid, dass aller Anfang schwer sei. Auch das ist sprichwörtlich geworden. Und dann hören wir wieder: „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“ Ja, was nun? Guter Anfang soll zudem halbe Arbeit sein und wir werden aufgefordert: „Erst besinns und dann beginns.“ Ein Anfangs-Allerlei mit hohem Widerspruchspotenzial. Also erst mal Ordnung und Orientierung schaffen, denn das ist am Anfang angesagt. Dass es diesbezügliche Bedürfnisse nach Orientierung und Ordnung gibt, liegt daran, dass anfangs Geschichte und Geschichten, also Vergangenheitserfahrung fehlt. Und die Zukunft ist auch offen. Ziemlich viel Offenheit für manch einen oder eine. Das kann Befürchtungen freisetzen oder gar bedrohlich wirken. Intelligenter Weise hilft uns unser Hirn angesichts noch fehlender Realitäten: es macht sich Phantasien und malt sich eine wünschenswerte Zukunft aus. Das ist nicht nur am Anfang von Liebesbeziehungen so, sondern auch in Lerngruppen oder in neu aufgesetzten Arbeitsprojekten. Orientierung heißt deshalb das stille Thema des Anfangens. Orientierung braucht es um aus der Ambivalenz herauszukommen. Diese wird befeuert durch hohe Erwartungen und Vorfreude von der einen Seite und von Ungewissheit und Befürchtungen von der anderen Seite aus. Beides gleichzeitig ist ziemlich anstrengend. Denn unsere Emotionalität oszilliert zwischen unterschiedlichen Polen. Zwischen denen liegt der Anfang. Und wir sind in einem Dauererregungszustand hin- und hergerissen zwischen (oft nicht angemessenen) Hoffnungen, Wünschen, Erwartungen einerseits und Besorgnis, Ungewissheit und Zweifeln andererseits. Dieses emotionale Oszillieren im Zwiespalt des Anfangs kann ein Prickeln auslösen, es kann für neue Er- und Aufregung sorgen, Unsicherheit und Ängste freisetzen, es kann euphorisch machen und es kann uns gänzlich blockieren. Dann doch lieber den Phantasien folgen und sich eine schöne Zeit nach dem Anfang ausschmücken. Mag sein, dass das für manche/n den Zauber ausmacht. Schließlich ist es ungewiss, was kommt. Im Kölschen Sprachraum gilt: „Et es wie et es“ und „Et kütt, wie et kütt“. Die Zukunft ist immer offen und sie ist kontingent. Denn es könnte eben immer auch anders kommen. Das Wissen um diese Ungewissheiten wird am Anfang emotional spürbar. Das belastet. Manche/r würde den Anfang auch gerne ganz weglassen, wäre am liebsten schon mitten drin. Geht aber nicht. Stattdessen jetzt die ganze Aufregung. Gut, dass es da Selbstberuhigungsroutinen gibt. In Köln heißt es kollektiv verwurzelt: „Et hätt noch immer jot jejange!“ Aber auch jede/r Einzelne hat so seine und ihre bewährten Kompensationsmuster. In neuen Gruppen ist am Anfang beobachtbar, dass vielen Menschen Gegenstände ersten Halt geben, z.B. Kaffeetassen (die zittern), Bücher vom Büchertisch (die verkehrt herum gehalten werden), oder Smartphones (die noch öfters als sonst entsperrt und angestarrt werden). Auch die Frage nach dem Platz („Ist der noch frei?“) hat eine hohe Bedeutsamkeit in der allerersten Unsicherheitsreduktion. Derweil sind die Menschen oft mit einem wilden Durcheinander ihrer inneren Stimmen behelligt. Wer ist wer? Mit wem könnte ich in Kontakt kommen? Wer ist mir sympathisch, wer nicht? Was wird das wohl werden? Wie komme ich hier wohl wieder mit heiler Haut heraus? Wo waren doch gleich die Toiletten? Hoffentlich gibt es ausreichend Pausen. Und so weiter. Nebst der phantasievoll ausgeschmückten Antworten dazu.
Insofern gilt es Orientierungen zugänglich zu machen, für sich und für andere, denen es ähnlich ergeht. Dafür nehmen sich Gruppenleiter viel Zeit, ermöglichen persönliche Basisorientierungen, niederschwellige Formen, um in Kontakt zu kommen, um sich kennenzulernen und das Thema grob zu umreisen. Denn die Energie ist anfangs bei den Grundbedürfnissen und beim Interesse an den anderen. Dann erst kommt das Thema, der Inhalt. Mit dem Thema zu beginnen, das ist ähnlich einzuschätzen wie zu Beginn einer Liebesbeziehung erst mal den Ehevertrag zu entwerfen. Anfangen ist etwas Emotionales. Und insofern braucht es Raum für Emotionen, dafür sie – mit aller noch gebotenen Vorsicht – zu benennen, sich dazu auszutauschen im Kontakt, mit Zeit und ohne Druck. Gruppendynamisch ist es insofern höchst sinnvoll, den Anfang zu bedenken und zu gestalten. Dass dies für manche Menschen auch eine Zumutung ist und sie gelegentlich anmerken, es gehe ihnen zu langsam, hängt damit zusammen, dass Anfangen individuell ganz unterschiedliche Zeitlichkeiten hat. Und es hängt auch mit der oben bereits erwähnten Ambivalenz zusammen. Eigentlich wäre man und frau gerne schon viel weiter, mittendrin im Arbeiten, Lernen, in der Beziehung, der Gruppe. Wäre sich gerne bereits nahe. Andererseits ist die Realität noch von Distanz gekennzeichnet. Manche/r wird deshalb etwas ungeduldig, hätte gerne schon was noch nicht ist, würde die noch nötige Entwicklung gerne „sparen“, wäre gerne bereits weiter. Andere arbeiten geduldig darauf hin, schätzen und genießen die Entwicklungen. Manche/r spürt am Anfang auch beide Anteile im Inneren: die Ungeduld einerseits und den Genuss der Anbahnung. Auch in diesem Zwischenraum oszillieren die Gefühle. Das macht Liebesbeziehungen am Anfang so spannend und im positiven Sinne aufregend. Insofern ist die Zeit, die der Anfang notwendigerweise braucht, ein „wertvoller Zeitverlust“. Dieser wird übrigens oft – manchmal Jahre – später in den höchsten Tönen sentimental geschönt erinnert.
Ein Anfang, der seine Zeit braucht, ist in einer gesellschaftlichen und organisationalen Dynamik der Übergangslosigkeit heute für manche/n eine Zumutung. Umso wichtiger ist es, dem Anfang – ebenso wie dem Abschluss – seine Zeit zu geben. Denn dann kann sich Neues entwickeln. Wenn Menschen oder Beziehungen beginnen, dann folgt dieser Beginn einer anderen Logik als der binären von Strom an und Strom aus. Es ist eine von widersprüchlichen Emotionen durchsetzte Gemengelage, die erst mal ihre Ordnung finden muss. Und dieser Ordnungsvorgang benötigt Zeit, die individuell ganz unterschiedlich ausfallen kann. Dem einen kann‘s nicht schnell genug gehen, die andere braucht etwas länger. Auch das können Liebespaare bestätigen – im Nachhinein oft mit leichtem Augenzwinkern. Wenn gut begonnen wurde und es gibt die nötige emotionale Stabilität und Ordnung, dann kann auch weitergemacht oder gearbeitet werden. Alles andere ist trivial gedacht und mündet in Kaltstarts. Bestenfalls müssen die verdrängten und vergessenen Orientierungen nachgeholt werden – was dann im Nachgang viel mehr Zeit braucht als es sie am Anfang „gekostet“ hätte. Schlimmstenfalls sind durch den Kaltstart irreparable Schäden entstanden, die eine Fortsetzung der Beziehung oder der Arbeit verunmöglichen. Dann ist Abbruch und ein Reset angesagt. Auch klassische Verbrennungsmotoren müssen warmgefahren werden. Werden sie ständig kalt gestartet und gleich hoch gedreht, zahlen sie es mit einem erhöhtem Ölverbrauch und einer massiven Verkürzung der Lebensdauer zurück, weil der Verschleiß unter Kaltstartbedingungen extrem hoch ist. Immer langsam warmgefahrene und auf Temperatur gebrachte Motoren sind kaum kaputt zu bekommen. Sie sind gut eingefahren und eingelaufen. Und belohnen es mit Verschleißarmut und hoher Lebensdauer. Bei nicht-trivialen Systemen, also bei Bewusstseins- und sozialen Systemen ist dies ähnlich. Sie brauchen ihre Zeit, um sich zu erwärmen. Gut erwärmt, zahlen sie es mit Wohlbefinden und hoher Leistungsfähigkeit zurück. Manche/r kennt das auch vom morgendlichen Aufwachen und Aufstehen. Hieran lässt sich ein interessanter Aspekt andocken, den fast jede/r von sich kennt. Es sind die Rituale. Am Beispiel des Wachwerdens: wie ich aufstehe, was ich dann in welcher Reihenfolge mache, wann ich Zähne putze und wie, die Zeitung lese, den Kaffee koche und trinke, das Frühstück zu mir nehme usw. Rituale entlasten den Anfang. Spitzensportler, die ihre Leistung an immer wieder anderen Orten abrufen müssen, haben feste und zeitlich hochritualisierte Abläufe und Routinen. Diese erleichtern Orientierung, auch unter immer wieder neuen Bedingungen. Es muss nicht alles neu erfunden werden, sondern Basisordnungen sind immer wieder gleich. Auch das ist fürs Leben und Arbeiten bisweilen eine gute Idee. Rituale entlasten Anfänge – und sind darüber hinaus „zeitökonomisch“ (und das wollen ja heute die meisten gerne haben). Ohne Anfang geht’s jedenfalls nicht. Also besinnen wir uns darauf. Damit ihm denn tatsächlich ein Zauber innewohnen kann.
Genießen Sie gute Anfänge!
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Literaturhinweis
Geißler, Karlheinz A.: Anfangssituationen. Was man tun oder besser lassen sollte. Beltz Verlag, Weinheim 2016
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