Nehmen Sie sich bitte mal einen Augenblick Zeit für den folgenden Gedankengang. Oder ist Ihnen das zu viel? Haben Sie überhaupt einen Blick für das, was der „Augenblick“ ist, die kleinste gefühlte und messbare Gegenwart, die wir kennen?

Der Augenblick bezeichnet umgangssprachliche eine Zeitspanne, die unterschiedlich wahrgenommen wird. Damit ist er ein mehr oder meist weniger ausgedehnter Teil der „Dauer“. Meist ist der Augenblick wohl von kurzer Dauer, eher ein Moment, eine bewusste Wahrnehmung des gegenwärtigen Hier-und-Jetzt. Es gibt kostbare Augenblick, solche, in denen man am liebsten sterben möchte und andere, die unvergesslich sind. Es gibt märchenhafte und lichte Augenblicke, wahre, erhabene, kreative, erfüllte, wir hoffen auf günstige Augenblicke – und natürlich gibt es auch solche zum Vergessen. Sie verdanken ihre Bezeichnung als „Augenblick“ der Verknüpfung einer zeitlichen Dauer mit einem besonderen emotional wirksamen Erlebnis. Wenn etwas als „Augenblick“ erlebt wurde, wird oder werden soll, dann geht es um etwas ganz Besonderes, etwas, das sich vom üblichen Einerlei der Zeiten unterscheidet. Die Zeitform des Augenblicks mögen wir deshalb, weil sie uns etwas Besonderes vermittelt. Ein Augenblick ist ein Unterschied, der einen Unterschied macht. Wer erinnert sich nicht an den Augenblick des ersten Kusses oder denjenigen des „ersten Mals“? Wir geben einem Ereignis „unserer Augen Blick“ und damit bekommt es einen Anfang und ein Ende. Das Dazwischen, das ist der Augenblick, den wir genießen, erinnern oder herbeisehnen. Es gibt den Augenblick als erinnerte vergangene Gegenwart, als erhoffte zukünftige und als faktische aktuelle Gegenwart. Am liebsten natürlich als solche Augenblicke, mit denen wir mit Goethe sagen dürfen: „Verweile doch, Du bist so schön!“ Obwohl jeder Augenblick – wollen wir Leonardo da Vinci folgen – doch zeitlos ist. Was jetzt?

Im Augenblick (des ersten Kusses), dieser ereignisbestimmten Dauer mit Anfang (Blickkontakt) und Ende (Lösen der Lippen voneinander) steht die Zeit still, sobald er ein „Augenblick“ wird. Damit bezeichnet der Augenblick eine bestimmte Zeit, die zeitlos wirkt. Der Augenblick ist eine bestimmte Form, die Zeit annimmt, wenn wir sie „Augenblick“ nennen. Pechriggl (1993, S. 36ff) benennt den hiermit umfassten Widerspruch als die „un/er/faßbare Momentanität“ des Augenblicks. Der Augenblick macht die widersprüchliche zeitliche Erfahrung von einer bestimmten Ereignisdauer und dem gleichzeitigen Gefühl von Zeitlosigkeit, von Ewigkeit möglich. Der Augenblick ermöglicht uns damit eine Annäherung an die Paradoxie der Zeit. Sie verstehen das nicht? Denken Sie einfach an ihren ersten Kuss zurück! Im Augenblick fallen Zeit und Zeitlosigkeit zusammen – gefühlt ist das jedenfalls so. Und da eben dieser Widerspruch den Augenblick offenbar zu besonders wirkungsvollen und nachhaltigen zeitlichen Erfahrungen macht, erscheint es lohnenswert, sich gut mit ihnen zu versorgen – besonders angesichts der Augenblickslosigkeit des ganzen hektischen Getues heutzutage, das eher einem Hintergrundrauschen ohne Rhythmus und Melodie gleicht. Da lobt man sich die Abwechslung, die unvergessliche Augenblicke bieten. Also mehr davon!

Dieser Sehnsucht folgte eine Welle, hinter der eine ganze Augenblicksindustrie steht. Jeder Urlaub, jeder „Event“, jedes Wellnessangebot verspricht sie, die unvergesslichen oder besser noch die unvergleichlichen Augenblicke. Obwohl die Begriffsverwendung sicher nicht immer im hier beschriebenen Sinne reflektiert erfolgt sondern eher sprachlichen Moden folgt, zeigt die augenblickliche Angebotsdynamik, dass die Verlust von bewussten Augenblicken angesichts der postmodernen Anfangs- und Endlosigkeit mit der dadurch verstärkten Sehnsucht auch das Geschäft damit belebt. Mangel ist eben der Antrieb für verstärkte Nachfrage. Insofern kann die ganze Erlebnisgeschäftigkeit als Ergebnis zu kurz kommender Augenblicklichkeiten gedeutet werden. Wenn ich keine kostbaren Augenblicke mehr habe, dann kaufe ich mir welche beim Jumpen, Biken, Raften oder anderen augenblicksverdächtigen Aktivitäten, die mich mit hoher Wahrscheinlichkeit aus meinem üblichen zeitlichen Erleben herausreisen. Immerhin lautet die Versprechung: Genieße den Augenblick! Ob dabei immer die ersehnten Augenblickserfahrungen heraus kommen, das sei dahin gestellt. Aber einen Versuch ist es ja wert. Ob das auch für das Geld, das solche Augenblicke kosten, ebenfalls gilt, sei dahingestellt.

Wert ist es die Einzigartigkeit von Augenblicken aber allemal, sich mit solchen zeitlichen Erfahrungen gut zu versorgen, besonders dann, wenn sie im Alltags-(er-)leben zu kurz kommen. Denn wenn es gelingt, Zeiterfahrungen als Augenblicke zu beobachten, dann entsteht so etwas, wie eine „erfüllte“ Zeit. Zudem wird uns manchen Ortes verheißen: „Wenn wir den Augenblick genießen, merken wir gar nicht, wie schnell die Zeit vergeht.“ Diese Kombination macht uns an: Die Kombination von erfüllter Zeitwahrnehmung und der Aussicht, der Flüchtigkeit und Schnelligkeit der Zeit zu entrinnen. Nicht zuletzt deshalb wünschen wir uns viele lichte Augenblicke. Jetzt!

Und im Lichte von Ostern.

***

Mehr zum Thema Zeit finden Sie bald in:

Frank Michael Orthey: Zeitumstellung. Für einen guten Umgang mit der Zeit. Erscheint am 21.06.2017 bei Haufe-Lexware.

Für den Fall, dass Sie ein paar Augenblicke Zeit haben …

Kategorien: Zeitforschung

0 Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

WP Popup