2019 hatte ich in diesem Blog einen Text mit der Überschrift „Sommerloch“ veröffentlicht, den ich hier – weil es eben ein Sommerloch ist momentan – teilweise wiederhole und hinten raus ergänze. Die Frage ist aber schon die von vor 6 Jahren: „Gibt es das überhaupt noch, was beginnend in den 1970-er Jahren für das Ausbleiben wichtiger Nachrichten zur Sommerzeit in den Medien so benannt wurde? Ein Sommerloch?
„Ein Loch ist da, wo etwas fehlt“ – so wird Kurt Tucholsky zitiert. Gemeint war mit dem „Sommerloch“ das Fehlen medial verwertbarer, „wichtiger“ Themen. Ob das heutzutage noch so gilt, ist angesichts veränderter medialer Gewohnheiten fraglich. Der heute übliche Digitalmensch, der als Follower unterwegs ist, kennt das Sommerloch wohl kaum noch. Da gibt’s kein Loch mehr. Dauermeldungen rund um die Uhr, nicht nur im Winter, wenn es schneit, nein auch im Sommer, wenn die Sonne scheint. Und auch zu allen anderen, im gescheiterten Reim nicht abgebildeten Zeiten. Und selbst wenn denn sommers die ganz großen politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sportlichen Neuigkeiten mal ausbleiben sollten, gibt es doch dafür immer schnell gefunden Ersatz. Eine flotte, heute oft dramatisierende Meldung oder eine Brise Fake News ist von irgendwem schnell hineingezaubert. Abgesehen von dem, was die Nutzer sich gegenseitig liefern und was über Likes und Posts schnell mehr Verbreitung findet wie die heute unüblich gewordene Druckpresse, sorgen ungezählte Marketing- und Medienprofis berufsmäßig dafür, dass jede noch so kleine Nische, jedes kleinste Loch in den Sprach- und Bilderfluten des Netzes zeitnah und just in time gestopft und gut verfüllt ist. Tagaus, tagein. Auch im Sommer. Schade eigentlich. Denn das „Sommerloch“ hatte unter Zeitverwendungsgesichtspunkten charmante Auswirkungen. Es eröffnete Perspektiven dadurch, dass etwas fehlte.
Der Nutzen des Sommerlochs war das Ausbleiben der großen medialen Neuigkeiten. Die Löcher, die das damals noch vornehmlich auf den Druckseiten hinterließ, wurden mit typischen Sommerloch-Themen aufgefüllt. Wenn Krokodile in bayerischen Gewässern auftauchten oder mal wieder von Nessie die Rede war, wenn auffällig häufig von übernatürlichen Beobachtungen berichtet wurde oder Dramen über Maschendrahtzäune oder andere Nachbarschaftsstreitigkeiten die Spalten füllten, dann war Sommer. Das bedeutete: Es wurde nichts Wesentliches verpasst. Die auf Neuigkeiten und Wichtigkeiten justierte Aufmerksamkeit konnte Pause machen, der überhitzte Geist konnte sich an amüsanten Geschichten erheitern und sich der Lässig- und Leichtigkeit der Sommerfrische hingeben. Das erwartbare Sommerloch sorgte dafür, guten Gewissens „offline“ sein zu können. Das Sommerloch hatte eine wichtige Unterstützungsfunktion für sommerliche Urlaubs- und Auszeiten. Es sorgte dafür, dass nichts bzw. nur Unwesentliches, Amüsantes, Belangloses verpasst wurde. Sommerloch-Nachrichten, wie sie uns am Rande, z.B. mit Blick in den Zeitungsständer am Kiosk oder beim gelegentlichen Vorbeischauen in den Fernsehnachrichten erreichten, gaben uns das gute Gefühl, abschalten zu können und zu dürfen, ohne gleich wieder als schlecht oder unzureichend informiert dazustehen. Dadurch, dass (unabhängig vom Gehalt und der Wichtigkeit der Nachrichtenlage) auf „Sommerloch“ reflektiert wurde, war eine Kultur der Nachlässigkeit abgesichert. Das medial ausgerufene Sommerloch kam einer Legitimation der Ignoranz gleich. Das nahm individuellen und kommunikativen Druck heraus und öffnete die Sinne für Anderes, das sonst zu kurz kam. Das war der Wert und der Nutzen.
Ich habe die vorhergehenden Sätze in der Vergangenheitsform geschrieben, weil ich Zweifel habe, dass es aktuell so noch realistisch ist. Geschickte Medienprofis nutzen den Sommer gezielt, um Themen prominent zu platzieren und aufzublasen. Was aber entscheidender ist: Die permanente kommunikative Vernetzung der Nutzer und Follower macht heutzutage keinen Halt mehr vor dem, was früher mal als Sommerloch und damit als Unabhängigkeitserklärung von der Nachrichtenlage wirkte. Eher steigt die kommunikative Dichte zur Sommerzeit dadurch, dass wir ständig Urlaubsfotos posten, liken und kommentieren und uns natürlich unabhängig von der Qualität über allerlei Newsdienste gut informiert halten. Wir sind immer online, schalten nicht mehr ab. War einst das Sommerloch der Garant für den Schonraum vor medialer Präsenz, so ist es heute – so, wie es nicht mehr ist – der Türöffner für mediale Dauerpräsenz auf anderem Niveau. Das, was früher an Qualität im Sommerloch versackte, produziert heute eine höhere Quantität der Mediennutzung. Sinnverdünnte Mediennutzung verziert – oder vermiest – uns den Sommer. Manchmal bis hin in die Sommerlächerlichkeit. Deshalb: Schalten Sie mal ab! Die Geräte lassen es zu. Geben Sie sich die Chance für Unterbrechungs- und Störungsfreiheit. Zugunsten der Wiederentdeckung dessen, was das klassische Sommerloch ermöglichte: die Qualität von bedürfnisorientierten eigenen und sozialen Zeiten jenseits der medialen Dauerbeschallungen, -betextungen und -bebilderungen.
Genießen Sie Ihr ganz persönliches Sommerloch!“
Wie wird das möglich?
Diese Frage habe ich mir aktuell gestellt.
„Nur dumm gucken“ schlägt ein Artikel von Marie Schmidt im Feuilleton der SZ mitten im diesjährigen Sommerloch am 02./03. August 2025 vor. Das – also: nur dumm gucken – wäre eine Lösung, die (nicht) nur der Sommer bietet. Es ist eine jahreszeitlich übergreifende Lösung für die Dauerüberlastung, die wir in unseren nicht sehr (sommer-) löchrigen Wirklichkeiten unseren Hirnen zumuten. Irgendwas ist ja immer, quasi – und wenn wirklich mal nichts sein sollte, dann wischen wir uns was hin. Damit was ist. Doch: „Das Gehirn ist für diese Art der Dauerbelastung nicht gemacht. Die Konzentrationsfähigkeit leidet, damit einem etwas Neues einfällt, muss man ChatGPT fragen, man schläft schlechter, eine grundsätzliche Müdigkeit stellt sich ein, Symptome, die von Menschen mit Burn-out oder Aufmerksamkeits-Defizit-Symptomen bekannt sind. Diese zerstreute Erschöpfung ist der dominante Geisteszustand des 21. Jahrhunderts.“ So heißt es im oben angesprochenen Artikel mit Bezug auf ein neurowissenschaftliches Buch von Joseph Jebelli mit dem Titel „The brain at rest“.[1] Sie erkennen hier womöglich thematische Motive aus diesem Blog wieder. Aber hat es was geholfen?
Der Sommer bietet nun eine neue Möglichkeit zur mentalen und inneren Gesundung. „How to Do Nothing with Nobody All Alone by Yourself.“[2] Das wäre die Therapieperspektive – hier auf den Punkt gebracht im Titel des jetzt erstmals (!) auf Deutsch erschienen Buches von Robert Paul Smith (ein amerikanischer Klassiker aus den 1950-er Jahren). Konkret: „Hermann, was machst Du da?“ „Ich sitze hier.“ Mit diesem Dialog bahnt sich bei Loriot ein Ehestreit an. Einfach nur sitzen, das ist schwer vermittelbar. Nicht in vielen Beziehungen – und auch nicht politisch. Die ehedem gehypten Müßiggänger sind zu Taugenichtsen und Nichtsnutzen verkommen, die anderen auf der Tasche liegen, weil sie unproduktiv sind. Das wollen viele nicht, auch dem Bundeskanzler schweben andere Menschen und Typen vor. Muße, Faulheit, Nichtstun – das ist ein Übel. Stimmt aber nicht. Ist falsch. Sagt dankenswerterweise auch Joseph Jebelli mit Blick auf die Funktionsweise des Areals, das üblicherweise zwischen unseren Ohren verortet wird. Das braucht öfters mal seine Ruhe. Um aus dem „Ruhestandsnetzwerk“ (super Wort, finde ich ;-), das unbedingt gebraucht wird zur Regeneration, zu neuer Kreativität, Empathie, Spontaneität und Agilität zu kommen. Das eine gibt es nicht ohne das andere. Keine Kreativität und Agilität ohne Ruhe und Nichtstun. Vernachlässigen wir diesen Mechanismus, machen wir im wahrsten Sinne des Wortes unseren Kopf kaputt. Das wäre dann dumm gelaufen. Dann doch lieber: Einfach mal dumm gucken. Ist zwar dann doch nicht ganz so „einfach“. Lohnt sich aber. Dumm gucken. Sonst nix. Ein schönes Projekt fürs Sommerloch.
Viel Erfolg – und gute Zeiten!
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[1] Jebelli, Joseph: the brain at rest: Wie wir durch Nichtstun unser Leben verbessern. Piper Verlag, München 2025
[2] Smith, Robert Paul: how to do nothing with nobody all alone by yourself. Hanser Verlag, München 2025
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Vielleicht etwas fürs Sommerloch – für diejenigen, die sonst nicht dumm gucken (dürfen). Ein sommerlich-leichtes Programm für alle, die trainieren und Gruppen leiten oder moderieren. Das neue Workbuch von Theresia Amelang und Frank Orthey bietet in fünf Loops zentrale fachliche Grundlagen, praxisorientierte Enrichments, bewährte Methoden und innovative Impulse für lebendiges Lernen.
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