Der Vorhang geht auf – und das immer öfters: Microsoft hat seit 2020 eine Steigerung der Online-Meetings um 153 Prozent festgestellt.[1] Wenn das jetzt erschreckend wirkt, wird in der Regel ein Meeting anberaumt, um das Thema „mal gemeinsam zu beleuchten“. Und schon steigt die erschreckende Zahl weiter. Und die für dieses und jenes anders eingeplante Zeit schwindet dahin. Immerhin bieten Meetings die Möglichkeiten, mal in weitestgehende Ruhe die angestauten Mailfluten zu sichten, zu löschen und – die wenigsten – zu bearbeiten.

Ich habe schon öfters in diesem Blog die These vertreten, dass Zeitknappheit, die viele Zeitgenoss*innen mit der Floskel „tut mir leid, keine Zeit“ vieler Orten wie eine Monstranz vor sich hertragen, die Funktion hat, Zugehörigkeit zum Ausdruck zu bringen. Wer auch keine Zeit hat, der- oder diejenige ist dabei, wer hingegen Zeit hat, macht sich verdächtig. Die richtig Wichtigen, die haben richtig wenig Zeit, gehören zu den unentwegt gehetzten, zu denjenigen, zu denen der Zugang schwierig, einen Termin zu bekommen nahezu unmöglich ist. Das ist der immer wiederkehrende Plot eines Wichtigkeitstheaterstücks, das in immer neuen Folgen mit kleinen Variationen in einer hohen Qualität Serienreife erlangt hat. Es ist ein Theater auf eigene Kosten – und auf Kosten derjenigen, die auf diesen Bühnen Rollen zugewiesen bekommen und dann beispielsweise innerlich brodeln und äußerlich interessiert aktiv zuhörend in Meetings hocken. Nicht Mitmachen gilt nicht und wäre auch ziemlich schädlich. Denn wer Karriere machen will, muss etwas für seine oder ihre Visibility tun. Die Unsichtbaren, die einfach nur brav ihre Arbeit machen, sind wenig gefragt und auch nicht so wahnsinnig erfolgreich. Gefragt und erfolgreich sind im Wichtigkeitstheater eben diejenigen, die ihre Wichtigkeit auf dessen Bühnen besonders wirkungsvoll in Szene setzen können. Jakob Schrenk beschreibt diese Dynamik in seinem Artikel im Magazin der Süddeutschen Zeitung als „Produktivitätsprahlerei“. Ob das so oder so ähnlich ist und wirkt, mögen Leserinnen und Leser selber anhand ihrer eigenen leidvollen Erfahrungen beurteilen. Dass die Zunahme solcher Szenen zeitliche Auswirkungen hat, die ohnehin vorhandene Knappheitsgefühle weiter befeuern, ist einigermaßen wahrscheinlich. Es kommt ja zum bereits gut gefüllten eigenen Spielplan noch etwas hinzu, das wichtig – und meist: vermeintlich noch wichtiger – ist.

Ein weiterer Aspekt, den ich im Produktivitätstheater – leider – am eigenen Leib erlebt habe: Wir verfügen heute über allerlei Tools und To-Do- oder Not-To-Do- oder Let-it-be oder Irgendwas-Apps, die wir für unsere inneren Theateraufführungen nutzen und die dazu führen können, dass sich eine Kultur des Abhakens einschleicht. Wenn mir erst nach einer spontanen Tätigkeit auffällt, dass ich diese gar nicht geplant hatte, schreibe ich sie im Nachgang in die Liste/App. Damit ich was zum Abhaken habe. Krank!? Je nachdem. Erst mal fand ich es lustig – dann gab es mir zu denken. Die ganzen „erledigt“-Häkchen sahen schon schick aus und lösten Zufriedenheitsgefühle aus. Und das ist ja schon viel wert an Tagen, die oft mit einem verzweifelt vor sich hin gestöhnten „was habe ich denn heute eigentlich gemacht?“ enden. Wenn ich allerdings anfangen würde, mich an der Ästhetik der Produktivitätsauswertungen – Torten, Balkendiagrammen oder gut aufbereiteten Statistiken – zu ergötzen, würde ich doch mal einen Termin mit meinem Therapeuten machen. Dann wäre ich in diesem inneren Theater wohl nahe an einer krankhaften Variante der perfekten Kontrollillusion.

Jedenfalls: Das ganze Theater, das wir da für uns selbst und für andere aufführen und uns antun, braucht seine Zeit. Ob die auch dem Genuss dient, ist mindestens fraglich. Wenn ich das freiwillig mitmache und mich dann abends über mich selbst kaputtlache oder in etwas diskreterer Art amüsiere, dann wäre das o.k. Dann hätte das Produktivitätstheater seinen Genussfaktor. Wenn sich stattdessen ein stärker werdender Nervfaktor zeigt, sollte die Frage gestellt werden: Wozu? Bestenfalls bevor es krankhaft zu werden droht. Es reicht ja auch, wenn das Produktivitätstheater dazu führt, dass Arbeit nicht mehr als motivierend wahrgenommen wird – dazu geben sich derzeit Studien mit erschreckenden Zahlen die mediale Klinke in die Hand. Also: Wozu? Wozu brauche ich das? Und wozu wirklich? Was ist das Bedürfnis oder das verletzte Bedürfnis, das dazu führt, dass ich meine Rollen brav weiter mitspiele. Will ich gesehen werden? Sicher sein? Anerkannt? Gemocht/geliebt? Wenn Antworten in eine solche Richtung weisen, dann ist die Anschlussfrage, ob es das wert ist, was ich mir dafür zumute oder antue. Und dann: Welche Alternativen es gibt, damit ich bekomme, was ich wirklich brauche. Das wäre dann Wichtigkeitstheater für mich selbst.

In diesem Sinne: Gute Zeiten in einem Theater, in dem Sie sich selbst wichtig nehmen.

***

[1] Diese Zahl ist zitiert nach einem Text von Jakob Schrenk, der auch diesen Blogbeitrag inspiriert hat. „Bühnenreif“ im Magazin der Süddeutschen Zeitung, Nummer 12, 21. März 2025, S. 24

***

Die „Zeit zum Umklappen“ ist ein Tisch-Aufsteller, der es mit drei mal 70 Satzteilen ermöglicht, sich mit „Sätzen für gute Zeiten“ zu versorgen (wer mathematisch begabt ist, rechnet jetzt die Anzahl der Kombinationsmöglichkeiten hoch …). Der Zeit-Satz-Variator kann damit ein „Souffler“ für die wichtigen Sätze in eigenen Theateraufführungen sein 😉

Die Sätze können zur Reflexion des eigenen Zeitverhaltens anregen – und über den Tag begleiten. Morgens wird neu umgeklappt – ein schönes Ritual, das sich gut für den täglichen Start am Schreibtisch eignet. Während der Rechner hochfährt oder irgendwas sich updatet, bleibt immer Gelegenheit, um sich einen schönen Zeit-Satz zu suchen (oder während nerviger Meetings im Wichtigkeitstheater).

Zu beziehen ist die „Zeit zum Umklappen“ über den ORTHEYs-Shop. Sie wurde im oberbayerischen Sachsenkam erdacht und wird auch lokal in Sachsenkam produziert. Kürzlich ist eine neue Charge mit 20 Exemplaren eingetroffen.

Die „Zeit zum Umklappen“ kostet einschl. Versand 19,95 Euro.

Versand und Verpackung brauchen gelegentlich etwas mehr Zeit als das in den zeitoptimierten Prozessen im Online-Handels-Getue üblich ist. Hier verpackt der Autor selbst. Innerhalb einer Woche werden Sie die „Sätze für gute Zeiten“ bei sich haben. Für Ihre persönliche „Zeit zum Umklappen“.

Kategorien: Zeitforschung

0 Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.