Pünktlich zum Herbstanfang erreicht uns die für viele aus unterschiedlichen Gründen kaum zu glaubende Nachricht, dass die Fernzüge der Deutschen Bahn bis 2029 zu 70 % pünktlich sein sollen. So will den genervten Bahnfahrenden es jedenfalls der zuständige Verkehrsminister glauben machen. Sollen sie glauben. Oder der irgendwann mal vorkommenden Pünktlichkeit überdrüssig werden – oder schon vorher die Frage stellen, was es denn ist, das wir durch die Glorifizierung der Pünktlichkeit und die Verteufelung von deren Gegenteil, der Unpünktlichkeit vermeiden.
Nur dies zur Einordnung vorab: Ich bin bekannt dafür, pünktlich zu sein – und ich schätze es auch, wenn andere es sind. Und ich finde es auch angenehm, wenn der Zug pünktlich ankommt. Dass ich das so finde, mache und schätze, ist natürlich Teil einer Sozialisation, meiner persönlichen und auch kulturell verfestigter Muster. Insofern sich auch ein Blick auf das Ausgeblendete lohnt, wie ich ihn hier anrege. Damit der Umgang mit der Zeit und die eigene zeitliche Stimmigkeit bestenfalls davon profitieren. Pünktlich zu … – ja, zu was eigentlich?
Dass der Bus nicht pünktlich nach Fahrplan abfährt, sondern dann, wenn er voll ist, das ist in manchen afrikanischen Ländern übliche Kultur. Keine/r regt sich auf, einen Fahrplan mit Abfahrts- und Ankunftszeiten gibt es gar nicht. Dass das so ist, zeigt eine wichtige Facette des Themas: Zeitliche Grundannahmen und -regeln sind immer kulturell gerahmt. Andere Kultur, andere Zeiten und andere zeitliche Annahmen, Regeln, andere Sprache und andere Glaubenssätze. Robert Levine geht in seinem Klassiker „Eine Landkarte der Zeit“ der Frage nach, wie Kulturen mit Zeit umgehen. „Die Zeit spricht, und zwar mit Akzent.“ (Levine 2007, S- 15)[1] Levine erörtert und belegt dies anhand vieler Beispiele. „Bei einer Umfrage in Brasilien baten meine Mitarbeiter und ich die Menschen, anzugeben, wie eng ihrer Meinung nach die Beziehung zwischen Pünktlichkeit bei Verabredungen und Erfolg sei. Zu meiner Überraschung hielten die Brasilianer die Personen, die zu spät zu allen Treffen erscheinen, für besonders erfolgreich und die pünktlichen Menschen für völlig erfolglos.“ (ebd., S. 156) Und: „Die Brasilianer halten unpünktliche Menschen für besonders erfolgreich, weil das den Tatsachen entspricht. Wichtige Leute lassen ihre Untergebenen warten.“ (ebd., S. 157) Das soll es zwar auch hierzulande als Teil subtil ausagierter Machtspiele geben, aber wie wäre es denn, wenn die Bahn für ihre Unpünktlichkeit und die damit einhergehende Flexibilität gelobt würde statt unentwegt kritisiert, geschmäht und verunglimpft? Das wäre eine andere Welt. Und ein anderer Zugang zur Zeit. Unser monochronistischer Zugang sorgt für die hierzulande präferierte Illusion der Plan- und Kontrollierbarkeit. Und hat eben auch Schattenseiten, weil er Lebendigkeit und Flexibilität ausblendet. Die werden aber doch angeblich heute besonders gebraucht angesichts turbulenter Lebens- und Weltverhältnisse. Was nun? Und: Wie? Jedenfalls scheint, dass Unpünktlichkeit vor diesem Hintergrund eher eine ziemlich nützliche Übung sein kann, um zurück zur Vielfalt zu finden und sie zu gestalten.
Solche Übungen erleben wir, wenn wir unpünktlich sind – oder eben: der Zug, wie so oft. Wir hätten es im durchgetakteten Pünktlichkeitswahn der persönlichen, organisationalen und kulturellen Hamsterräder nie erlebt, hätten bestimmte Kontakte, Gespräche, Beziehungen nie erlebt und hätten bestimmte – freie, offene, ungenutzte – Zeiten nie gehabt, hätten nicht warten müssen, dürfen oder können. Wir wären weiter vertaktet durch diese Welt gestolpert und gehastet. Erst die Unpünktlichkeit hat den Fluss der Zeit verlebendigt. Wir mussten warten, neu überlegen, denken, mit anderen und anders sprechen, hatten andere Gedanken und andere Emotionen.
„Kontrolle“ über die Zeit – und damit über das Leben – zu haben, hieße insofern nicht, Pünktlichkeit zu fordern, zu praktizieren und zu leben. Es hieße, zu entscheiden, wann Pünktlichkeit hilfreich und nützlich ist – und wann es eher eine hinderliche, eine einengende und begrenzende Zeitform ist. Und wann und wie es anders für uns stimmiger, förderlicher und hilfreicher wäre. Solche Entscheidungen stünden für die Kompetenz, Zeit als etwas Vielfältiges zu sehen, zu behandeln und zu gestalten. Mal so, mal so. Selbst diese, ähnliche oder ganz andere Gedanken könnten erst beim durch Unpünktlichkeit erzwungenen Warten entstanden sein. Grund genug jedenfalls, nicht immer verkniffen nach Pünktlichkeit zu schreien und Unpünktlichkeit zu beklagen, sondern Zeit und den eigenen Umgang damit vielfältig zu sehen, zu denken und zu gestalten.
Gelegenheiten dazu gibt es – der Bahn sei Dank immer mal wieder auch am Bahnsteig.
Gute Zeiten!
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[1] Levine, Robert: Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit Zeit umgehen. München, Piper Verlag, 13. Auflage 2007
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