Nichts tun?

Wir tun es beim Discounter an der Kasse, auf dem Weg in den Urlaub am Flughafen, am Bahnhof oder meist länger auf der Autobahn, wir tun es beim Metzger um die Ecke und werden dabei ungewollt unterhalten, bei der Abholung des Personalausweises werden wir über Wartemarken dabei reguliert, die Engländer machen es traditionell sehr diszipliniert und ordentlich hintereinander, am Skilift wird dabei ziemlich gedrängelt und auch in der adventlichen Vorweihnachtszeit ist es in den Konsumtempeln und Kinderzimmern ziemlich angesagt. Wir warten. Und tun nichts – oder jedenfalls nicht das, was wir zu tun erwartet hätten. Nichts oder nicht das geplante tun zu können, setzt Anmutungen frei, die das Warten als eher „verlorene Zeit“ diskriminieren. Dabei tun wir oft viel beim Warten. Heute spielt dabei meistens das Smartphone eine nicht unbeträchtliche Rolle. Wir checken Mails, vernetzen uns in den sozialen Netzwerken, schicken Whatsapp-Nachrichten, machen liegengebliebene Telefonate, schauen Videos oder spielen irgendwie mit dem allgegenwärtigen Begleiter rum. Und hören natürlich Musik dabei. Manchmal scheint es, als gäbe das Smartphone dem Warten neuen Sinn. Gelegentlich drängt sich sogar der Verdacht auf, dass es der Befriedung der Wartenden dient, denn es reduziert offenbar den Grad der Aggression der durch Warten zur Untätigkeit, zum Nichtstun Verdammten. Es scheint, als werde etwas weniger geschimpft in den Warteschlangen der Nation seitdem jeder was in der Hand hält, das dieser ungeplanten Seinsform doch noch einen Sinn gibt – oder jedenfalls von der Zumutung des erzwungenen Nichtstuns ablenkt. Die eigentliche Zumutung beim Warten ist nicht das (vermeintliche) Nichtstun, denn das wäre ja quasi eine zusätzliche Pause. Eigentlich. Denn Pausen sind ja auch zeitliche Phasen des Nichts- oder Anderes-Tuns. Im Gegensatz zum Warten ist dies beim Pausieren aber selbstgewählt. Beim Warten ist das Nichtstun, die Tatenlosigkeit (meist) erzwungen. Das ist die Zumutung.

Planung und Warten

Warten stört deshalb, weil es mit anderen Planungen zusammenstößt. Weil ich etwas geplant habe und diese Planung jetzt nicht funktioniert wegen der blöden – natürlich überflüssigen – Warterei. Mit der Form der Planung befeuern wir die Hoffnung, dass die zu erwartenden Wirklichkeit der Planung entspricht. Planung reduziert Komplexität und vermittelt Erwartungssicherheit. Und jetzt: Warten! Das war so nicht geplant. Das Warten zwingt zur Umplanung. Es müssen Termine verschoben, synchronisierte Kalender angepasst, ToDo-Listen angeglichen oder Kunden und PartnerInnen ver- oder je nachdem getröstet werden. Das Warten zwingt uns in praktisch und vor allem in emotional anstrengende Situationen, die wir nicht geplant hatten. Das macht für viele Menschen das Warten so schlimm, so unerträglich. Es macht Planung kaputt, zwingt in neue Planungsprozesse und schränkt damit die eigene zeitliche Autonomie ein. Das hatten wir so nicht auf dem Plan!

Was beim Warten passiert

Erst ist es nur Ungeduld, die sich nervös zeigt, dann ein sich erst langsam und dann immer schneller aufbauendes Unverständnis, das irgendwo zwischen Depression und Aggression landet. Je nachdem. Verzweifelte Mimik, auffällig häufige Blicke zur Armbanduhr oder auf die Zeitanzeige des Mobiltelefons, innere und manchmal auch laut geäußerte Flüche, Beschimpfung der nicht anwesenden (vermeintlichen) Verursacher des Wartens oder Umleitung der Aggression auf Unbeteiligte. Das sind die Spurwechsler im Stau genauso wie zu langsam Wartende, also solche, die wegen eines Nickerchens (ja, auch das gibt’s) oder einer anderen Unpässlichkeit den Aufruf verpassen und damit das Warten weiter verzögern. Oder es sind gänzlich Unbeteiligte, die nicht warten müssen und die Wartenden mit ihrer Anwesenheit provozieren. Sie reizen mit ihrem Nicht-Warten-Müssen. Wie der Jogger, der sich vor der Münchner Olympiahalle durch die Schlange der zum Konzert Einlass Suchenden kämpfen muss und dafür Anfeindungen erntet, die eigentlich gar nicht ihm gelten, sondern aus der Zumutung der erzwungenen Wartezeit herrühren. Oder wie die Motorradfahrer, die sich durch die gestauten Autos hindurchschlängeln. Die bekommen ab, was dem Warten gilt – hoffentlich keine gezielt eingesetzte Autotüre. Und das in einer hochzivilisierten und auf Perfektion gestylten Welt. Da darf es doch keine Warterei mehr geben! So ein oft geteilter Glaubenssatz, der beim heutigen Warten die Zumutung noch schlimmer macht. Denn es mag ja noch nachvollziehbar sein, dass zu Zeiten der handschriftlichen Formularbearbeitung auf der Zulassungsstelle Wartezeiten entstanden, aber heutzutage? Bitte. Alles vernetzt und mit Hochleistungs-Software in standardisierten Prozessen gut durchgerechnet und organisiert. Wenn’s da trotzdem zu unbekömmlichen Wartezeiten kommt – und manchmal erzeugt eben die zusammenbruchsempfindliche Welt der High-Tech-Automatisierungen extremere Wartezeiten als ein händischer Verwaltungsakt das je hinbekommen hätte – dann werden diese schnell von unbekömmlich zu völlig unerträglich, inakzeptabel, nicht aushaltbar.

Die Macht beim Warten

Das hat etwas mit dem Machtaspekt zu tun. Das Gefühl, dass mich jemand warten lässt, dass ich warten „muss“, erzeugt Ohnmachtsgefühle. Damit zu arbeiten, das machen manche Chefs oder Würdenträger ganz gezielt, wenn eine dem jeweiligen Statusunterschied angemessene Warterei im getäfelten Vorzimmer sehr deutlich spüren lässt, wer hier die zeitliche Hoheit besitzt. Oft sind es übrigens nicht die Chefs selbst, sondern es sind diejenigen, die dafür sorgen, dass die räumlichen und zeitlichen Verhältnisse – aus ihrer Sicht – passend justiert werden. Wenn Sie am Pförtner oder der Sekretärin, die heute meist als „Assistentin der Geschäftsleitung“ agiert, vorbeigekommen sind – und meist heißt das: sich demütig „vorbeigewartet“ haben -, dann haben Sie gewonnen. Warten-Lassen, das wird von vielen derart Sitzen- oder Stehengelassenen als massive Machtdemonstration empfunden. Übrigens treten diese Effekte in den sogenannten „Warteschleifen“ der Call-center ebenso auf wie angesichts des Sanduhrsymbols vor dem heimischen PC-Bildschirm. Die zeitlichen Machthaber sind heute auch virtuell zugange und nicht selten maschinengesteuert. Dafür die romantisierende Form der Sanduhr zu wählen, das kann als Beitrag zum „schöner Warten“ gemeint gewesen sein, hat aber mittlerweile die dem Symbol innewohnende Harmlosigkeit ruiniert. Die Sanduhr steht skuriler weise für die zeitliche Machtübernahme durch die Maschinerie.

Schöner Warten?

Diese Dynamiken scheinen den Planern des Wartens nicht ganz unverborgen geblieben zu sein. Dafür steht eine neue Ästhetik des Wartens. „Schöner Warten“ ist angesagt. Letztlich sind das raffiniert arrangierte Ablenkungsmanöver. Nicht mehr im kalten und unbequemen „Wartesaal“ das Dasein fristen müssen, nicht mehr nebeneinandergedrängt im Wartezimmer kauern, sondern in bequemen Sitzmöbeln sich herumräkeln, versorgt mit Wasser und Espresso, abgelenkt durch die aufliegenden aktuelle, wöchentlich erscheinende Bildungslektüre oder – gerne genommen in ärztlichen „Wartebereichen“ – Hochglanz-Reiseführer, aufgefrischt von Kunstdrucken und Skulpturen und mit einer Wartemarke versehen, die den wahrgenommenen Zeitverlust oder die zeitliche Zumutung absehbar bzw. eingrenzbar macht. Die neueste Version der Wartemarken heißt sogar „Herzlich Willkommen“ – zum Warten – und die Information der Wartenden erfolgt nicht mehr nur rein numerisch nach Reihenfolge sondern verfügt über eine „Echtzeitangabe“. Das ist schöner Warten. Auch Staumeldungen in den Verkehrssendern werden heute mit Angabe zum zu erwartenden „Zeitverlust“ garniert. Ob das Stauerleben dadurch schöner wird, sei dahingestellt. Aber das Warten wird kalkulierbarer. Immerhin.

Neuerdings werden die angestaubten Warteräume immer öfters zu „Warte-Zonen“ umbeflaggt, in denen die Kassenpatienten und die Antrag- und Bittsteller „schöner Warten“ dürfen. Ob sich der politisch etwas ambivalent besetzte Begriff der „Zone“ dafür eignet, das sei dahingestellt. Gerne genommen wird er jedenfalls. In Zonen war man jahrzehntelang – oft gegen den eigenen Willen – eingesperrt. Da war allerdings langes Warten angesagt. Na, ja, Sie können ja versuchsweise mal die (Warte-) Zonengrenze überschreiten. Wenn nicht zurückgeschossen wird, dann werden sie vermutlich zurückgeschickt. Auch das ist etwas ziemlich Machtvolles. Aus der Wartezone verwiesen zu werden („Kommen Sie nächste Woche nochmals wieder, heute ist die Wartezeit abgelaufen!“) oder ans Ende der Schlange zurückzumüssen wegen eines Wartefehlers („Sie haben keine Wartemarke? Ohne Marke geht hier gar nichts!“), das ist dann trotz aller Anstrengungen um eine Ästhetisierung des Wartens meistens einen Tick zu viel. Und versaut die ganzen Möglichkeiten, die das Warten auch hätte haben können.

Und wenn Sie jetzt in irgendeiner Schlange darauf warten, ihr gerade erworbenes Geschenk zahlen zu dürfen (und sich darüber ärgern, es nicht doch online geordert zu haben), dann können Sie es ja mal mit einem veränderten Mindset versuchen (Zeit dazu wär‘ ja gerade): Eigentlich warten Sie doch aufs Christkind. Oder? Und dieses Warten ist doch oft spannender als die folgende schöne Bescherung. Advent ist eine ritualisierte Wartezeit. Genießen Sie Ihr Erwarten.

Ich kann Warten!

Wenn wir unseren Mindset zum Warten umjustieren könnten, dann wäre viel (Zeit) gewonnen. Wir könnten das Warten genießen oder es – wenn wir wollen – auch nutzen. Die Haltung, die in dem oft etwas untertönig verwendeten und mit einer leichten Drohgebärde versehenen Satz umfasst werden kann, lautet: Ich kann warten!

Diese kleine „Zeitumstellung“ würde dann in einer Situation münden, die den vermeintlich aufgezwungenen Zeitverlust zu einer gewonnenen Eigenzeit umgedeutet hätte. In einer solchen Situation des Wartens würden wir uns nicht auf die Zukunft – und damit auf die Planung konzentrieren, sondern auf die Gegenwart. Auf uns selbst, auf anderer Wartende, auf das Interessante in unserer Umgebung. Wir würden uns mit den feinen Unterschieden beschäftigen, für die wir sonst keine Zeit und wenig Aufmerksamkeit übrig hätten. Wir würden den geschenkten Stopp im Fluss der verplanten Zeit würdigen und schätzen in dem, was er uns Zusätzliches, Neues ermöglicht. Wir könnten ihn auch nutzen, um uns in unserer Planungstretmühle anzuschauen, uns in unserem aktuellen zeitlichen Verhalten zu reflektieren und unsere zeitlichen Herausforderungen und Bedürfnisse erforschen – und was diese stört. Wir könnten uns diese oder ähnliche Rituale für zukünftige Wartezeiten verordnen, mit denen wir unverhofft beschenkt werden. Das wär doch dann wirklich eine „schöne Bescherung“.

Wir wünschen es Ihnen. Damit Sie künftig das Warten kaum erwarten können.

Eine schöne Vorweihnachtszeit!

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Wenn Sie öfters mal eine Wartezeit für das Thema Zeit nutzen möchten, dann können Sie auch ein Buch zur Hand nehmen:

Frank Michael Orthey: Zeitumstellung. Für einen guten Umgang mit der Zeit. Haufe-Lexware.

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Kategorien: Zeitforschung

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