Einst hatten die Philosophen Muße. Sie lagen – wie Diogenes – vor ihrer Tonne oder räkelten sich an anderen schönen Orten und schwelgten in schöpferischer Muße. Das war in der Antike der Gegenbegriff zur Geschäftigkeit. Gemeint war damit Ruhe, Verzögerung, Langsamkeit und Zurückgezogenheit. Der damit beschriebene Zustand sollte kreative und charakterbildende Möglichkeiten freisetzen. Der Weise hatte Zeit und Muße, otium, wie Seneca uns bereits hinterlässt. Diese wurden für freies Denken genutzt. Muße war damit ein Gegenentwurf zur Arbeit, die offenbar weitgehend ohne freies Denken auskommen musste. Für gewisse religiöse Kreise war dies irgendwann bedrohlich und prompt wurde die Muße zum Müßiggang abgewandelt und zum Laster diskreditiert. Sowohl im Mönchstum wie auch im Protestantismus. Dort wurde Arbeit zum Modell guter, gottgewollter Lebensführung erhoben. In der protestantischen Arbeitsethik war insofern der Müßiggang „aller Laster Anfang“. Ein Gedankengut, das schnurstracks in den Kapitalismus führte. Dort ist die Muße heute insofern entweder völlig ungezügelt unter Großstadtbrücken zu finden, wirkt aber gar nicht mehr würdevoll und schöpferisch-kreativ wie einst, sondern eher erzwungen und randständig – und jeglicher Würde beraubt. Oder aber die Muße wurde im Zuge der Kommerzialisierung aller Lebensbereiche fürs Geldverdienen entdeckt. Und zur Selbstoptimierung genutzt, die nicht sein kann, sondern sein muss. Muße wird zum Muss. Ein bisschen „quality-time“ kann man sich schon was kosten lassen in der knappen – früher so genannten – „Freizeit“. Wellness ist so in, dass es fast schon wieder out ist. Der Muße kann beim slow-food oder ähnlichen wiederentdeckten einfachen Lebenspraktiken gefrönt werden. Kostet halt was. Macht ja nix, alles hat eben seinen Preis. Dabei wären Mann und Frau doch so gerne gelassen. Und kaufen das entsprechend betitelte Werk „Gelassenheit“ so begeistert, dass es 18 Wochen nicht von der Spitze der Spiegel-Bestsellerliste runterkommt. Dort wird in 10 Schritten wiederentdeckt, was vergessen war.

Der Weg in die Gelassenheit führt meist auch über die sogenannte Achtsamkeit, die eine steile Karriere von der buddhistischen Sinnsuche zur Westentaschen-Entspannungstechnik im Kapitalismus durchgemacht hat. Und die weiter auf dem Vormarsch ist. Dass dies so ist, steht wohl für ein Bedürfnis, das unter postmodernen Gesellschaftsverhältnissen ob der ganzen neuen Möglichkeiten verschüttet wurde. Freigelegt wird es mittels derjenigen Mechanismen der kapitalistischen Gesellschaft, gegen die Gelassenheits- und Achtsamkeitseuphorien antreten. Das ist zwar paradox. Aber wenn’s hilft, dann hilft’s. Alternativ wäre auch die höchstpersönliche Wiederentdeckung der klassischen Muße möglich. Der Downshifting-Markt wird es sicher in Kürze (an-) richten. Aber ob das ohne Muss geht?

Kategorien: Zeitforschung

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