Wir treffen Entscheidungen. Diese beziehen sich auf die Zukunft. Entscheidungen brauchen ihre Zeit – und wir tun mit ihnen so, als sei die Zukunft absehbar. Wir nehmen in den Entscheidungen die Zukunft vorweg. Dadurch erscheint diese kalkuliert und kalkulierbar. Das ist entlastend und macht Hoffnung. Entscheidungen, besonders solche, die beispielsweise in Organisationsentwicklungs- und Changeprojekten großvolumig und vollmundig kommuniziert werden, stabilisieren die Vorstellung, die Zukunft sei etwas weniger offen, etwas weniger kontingent. „Aus einer offenen Zukunft wird eine geschlossene Zukunft, aus offener Kontingenz eine geschlossene Kontingenz. Die Zeit wird eingefangen.“ (Groth 2017, S. 78)[1] Diese Annahme basiert auf dem systemtheoretischen Denken Niklas Luhmanns, das neben Sach- und Sozialdimension auch die Zeitdimension in den Blick nimmt. Notwendigerweise, denn Sinnsysteme, wie Bewusstsein und Kommunikation, sind Systeme mit „temporalisierter Komplexität“. Temporalisierung, Verzeitlichung, ist notwendig, da die Elemente (Letzteinheiten) der Systeme vergehen und keine Dauer haben. Stabilität kann deshalb nur auf Umwegen gewonnen werden, also beispielsweise durch Bezugnahme auf den konservierten Sinn von Vergangenheit, der beispielsweis in Unternehmensgeschichte(n) und Gründermythen abgelegt ist. Wenn nun via mutiger Entscheidungen bestimmte Zukünfte wahrscheinlich gemacht werden sollen (auch das ist eine Temporalisierungs-Strategie), dann ist zu überprüfen, ob dies zum bestehenden Vergangenheitsbild passt: Hätte Werner von Siemens das so gewollt?

Wenn die aktuellen organisationalen Einredungen der gewöhnlich besser informierten Kreise ergeben, dass dem nicht so gewesen sein könnte, ist entweder der Zukunftsentwurf zum Scheitern verurteilt (oder er hat es jedenfalls sehr schwer) oder es steht eine neue Bewertung der Vergangenheit und deren Überlieferungen und Worte an. Wenn daraus geteilte Stimmigkeiten in der Organisation entstehen, dann wird das was mit der Schließung der Zukunft im Sinne der Entscheidung. Wenn sich die Vergangenheit nicht öffnen (lassen) will, dann bleibt’s wohl doch bei einer offenen Zukunft. Und es muss ein anderer Sinn für und in der Entscheidung gesucht werden. Das – Sie hatten es geahnt – braucht seine Zeit. Deshalb ist Veränderung so ein (zeit-) aufwändiges Gewerk. Und ihr Gelingen so unwahrscheinlich. Obwohl der Lösung die Geschichte des Problems egal ist (Systemiker-Spruch ;-). Oder doch nicht so ganz?

Wenn die Zukunft geschlossen wird, dann muss oftmals erst die Vergangenheit geöffnet, sprich neu interpretiert und gedeutet werden. Nur dann kann künftig (andere) Geschichte geschrieben werden. Welche Geschichten des Gründers können wie (um-) gedeutet werden, sodass diese die Entscheidung für eine bestimmte Zukunft untermauern?

Sich verändernde Organisationen beschäftigen sich insofern – ebenso wie Menschen und Kommunikationssysteme – mit ihrer Vergangenheit, schreiben und interpretieren sie neu und anders, so dass sie eine Zukunft haben – oder wieder eine bekommen. Organisationsentwicklung ist in den Entscheidungen, die sie konfiguriert, ohne die Geschichten der Vergangenheit nicht sinnvoll möglich. Wenn sie trotzdem so tut, dann wird die Vergangenheit die Zukunft ziemlich schnell einholen. Das hätte unser Gründer sicher so nicht gewollt!

Insofern hören Sie sich, wenn Sie ein bestimmtes Interesse an der Zukunft haben, erst mal die alten, die überlieferten Geschichten an. Das ist oftmals eine gut investierte Zeit, wenn Sie in und mit Organisationen Großes vorhaben. Wenn sie also beispielsweise (ungefragt) in einem aktuellen Changeprozess die Geschichte des sparsamen Gründers hören, der den Laden durch mutige Expansion und konsequente Zukäufe zu heutiger globaler Größe gebracht hat, aber nichtsdestoweniger bescheiden wohnte und immer noch lebt, der keinen Chauffeur hat und im zurückhaltenden Fahrzeug selbst fährt und (natürlich!) unangekündigt vorfährt, dann wissen sie schon einiges, das zu interessanten Fragen Anlass gibt. Interessant ist insofern, welche Geschichten aus der Vergangenheit aktuell erzählt werden, welche in früheren Zeiten erzählt wurden (und heute womöglich nahezu vergessen sind) und wie die Geschichten von unterschiedlichen Gruppierungen und Ebenen der Hierarchie erzählt werden.

Abhängig von den Auskünften, die Sie (in den meistens ziemlich interessanten Gesprächen und Kontakten) bekommen, können Sie gemeinsam mit den Klienten oder Hauptprotagonisten neu vermessen, wie sich die Zukunft, für die Sie sich entschieden haben, mit den erzählten Vergangenheiten verträgt. Und was die Verträglichkeitsprüfung an gegenwärtigen Interventionen brauchen könnte, damit die Geschichte fortgeschrieben werden kann in einer Zukunft, die, auch wenn sie geschlossen gedacht ist, doch letztlich eine offene ist. Soviel zeigt die Geschichte. Immerhin.

Wer jetzt an seine Zukunft denkt und sich über seine Vergangenheit Gedanken macht, die- oder derjenige ist dem Hier-und-Jetzt auf der Spur. Genießen Sie es.

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Für Ihre Gegenwart – zwischen Vergangenheit und Zukunft: Frank Michael Orthey: Zeitumstellung. Für einen guten Umgang mit der Zeit. Haufe-Lexware.

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[1] Dieser Beitrag ist inspiriert von: Groth, Thorsten: 66 Gebote systemischen Denken und Handelns in Management und Beratung. 2. überarbeitete Auflage, Carl-Auer-Systeme-Verlag, Heidelberg 2017, S. 78 („30: Fokussiere auf die Zeitdimension und betrachte Organisationen als Zeitfänger und Vergangenheitsveränderer“)


1 Kommentar

Die Schließung der Zukunft - timesandmore · 3. Mai 2018 um 11:13

[…] offener Kontingenz eine geschlossene Kontingenz. Die Zeit wird eingefangen.“ (Groth 2017, S. 78)[1] Diese Annahme basiert auf dem systemtheoretischen Denken Niklas Luhmanns, das neben Sach- und […]

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